Zum Thema: Der Sturm und der Tag Danach
Sechster Teil: Angewandte Wissenschaften
„Hund“, so heißt das Fahrrad des Capitán. Er erklärt das immer unterschiedlich, aber die Begründung, die der Realität am nächsten kommt, lautet, dass in seiner Kindheit ein Nachbar einen Hund hatte und dem Tier den Namen „Fahrrad“ gab. Dem gestörten Sinn für „Gerechtigkeit“ des Capitán zufolge war es nur logisch, dass sein Fahrrad zur Entschädigung nun „Hund“ heißt. Da das Fahrrad in der spanischen Sprache weiblich ist („bicicleta“), war zu erwarten, dass er es auch in der weiblichen Form von „Hund“ benennen würde. Aber da er wahrscheinlich die Schwierigkeiten vorausahnte, die mit der Übersetzung ins Englische einhergehen würden [1], oder weil er der Ansicht ist, dass die Bestimmung von Geschlechtern wie die Zuweisung von Schicksalen ist, eine vermeidbare Falle, blieb es bei „Hund“.
Wie dem auch sei, Fakt ist, dass mit dem „Hund“ alles anfing. Der Capitán möchte nämlich sein mechanisches Fahrrad nicht in ein elektrisches umwandeln, weil er in seiner Naivität glaubt, dass er noch eine andere Option finden kann.
Aber diese Sache mit dem „Hund” ist nur ein Teil der Gleichung, wobei wir uns noch immer in unserer hypothetischen Situation befinden.
Der andere Teil ist ein Kollektiv bzw. eine Gruppe von Menschen, die sich der Wissenschaft widmen. Der „Hund“ und dieses Kollektiv haben möglicherweise nicht nur die natürliche Tendenz gemeinsam, immer dagegen zu sein, wie sie einige Menschen an den Tag legen. Dieses Kollektiv, das ich ab jetzt als „Angewandte Wissenschaft“ bezeichne, ist widersetzlich. Das heißt, sagen wir mal, dass es in der Wissenschaftsgemeinschaft nicht der Tendenz der Mehrheit folgt. Es ist nicht frivol, oberflächlich und unwissend, was die Welt jenseits seines Fachgebiets angeht. Es handelt sich also um ein Minderheitenkollektiv. Verlieren Sie deshalb nicht Ihre Zeit damit, den Namen in den Wissenschaftskatalogen zu suchen. Abgesehen von diesem schwerwiegenden Verstoß gegen die wissenschaftliche Tradition strebt dieses Kollektiv nicht nach Veröffentlichungen in Fachzeitschriften, Preisen, Stipendien, Ruhm, staatlichen oder nichtstaatlichen Ämtern oder einem Posten in der akademischen Welt. Vielmehr konzentriert es seine Arbeit auf die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Realität.
Die Gleichung „Hund-Capitán-Angewandte Wissenschaft-Tag Danach“ hat mit zwei Ausgucken auf den Masten von zwei ignorierten Schiffen zu tun: dem kleinen des Kollektivs Angewandte Wissenschaften und dem noch kleineren der Zapatistas. Obwohl sie sich offensichtlich in unterschiedlichen und nicht selten auch ungleichen Meeren befanden, konnten sie von beiden Schiffen aus in der Ferne sehen, was auf sie zukam. Der Sturm nämlich.
Es ist nicht bekannt, ob es zwischen beiden ein persönliches und formelles Treffen gegeben hat oder ob es einer dieser unmöglichen Zufälle war. Fakt ist, dass das Kollektiv ausgehend von seinen wissenschaftlichen Kenntnissen und der Zapatismus ausgehend von seinem nicht-wissenschaftlichen Wissen zur gleichen Schlussfolgerung gelangten.
Und weder auf dem einen noch auf dem anderen Schiff war die Konsequenz, sich in Laster und Verderben zu stürzen (auch wenn das dem Capitán wohl gefallen hätte) oder sich in Spelunken und kirchlichen Feierlichkeiten gehen zu lassen. Aus irgendeinem seltsamen Grund, der mit oder ohne Angabe von Gründen schwer zu erklären ist, gelang es ihnen, von beiden Ausgucken über den Sturm hinauszuschauen, und sie kamen zu dem Schluss, dass das Problem nicht der Sturm selbst war, sondern … der Tag danach.
Das oberste Oberhaupt des „Systems für Post und Wahnsinn der Ezetelen“, ein schizophrener Käfer, unterrichtete unseren lieben (Ha), bewunderten (Ha hoch zwei), geliebten (Faktor von Ha) und nie gut gesinnten Capitán von der Existenz dieses rebellischen, aufmüpfigen, frevelhaften und zu allem Überfluss auch noch wissenschaftlichen Kollektivs.
Der Capitán verzichtete darauf, den Käfer zu fragen, wann zum Teufel er diese Stelle bekommen hatte, und bat um die E-Mail-Adresse. Er setzte sich mit ihnen in Verbindung. In seinem Brief erklärte der Capitán Folgendes:
Er sei inspiriert von dem, was in der Welt der E-Bikes als „regeneratives Bremsen“ bekannt ist (wobei grob gesagt beim Bremsen die kinetische Energie des Motors, die anderenfalls verloren gehen würde, in die Fahrzeugbatterie geleitet wird, um diese wieder aufzuladen). Da für dieses System ein bestimmter Motor und eine spezielle Vorrichtung erforderlich sind, die Energie nicht zu 100 % zurückgewonnen werden kann und das Ganze teurer und wartungsintensiver ist, kam der Capitán auf seine ursprüngliche Idee zurück: ein Aufziehfahrrad. Ja, wie die Spielzeugautos aus der Kindheit von früher, bei denen das Auto aufgezogen wurde, damit es sich durch einen „Motor“ bewegte – der nichts anderes war als eine maximal zusammengedrückte Spiralfeder, die, wenn sie freigegeben und „abgewickelt“ wurde, mithilfe von Zahnrädern die Räder in Bewegung setzte. Genau wie bei einer herkömmlichen Uhr. Sie wurde auch in Spielzeugen und Puppen verwendet (die wissenschaftlich ausgeweidet wurden, um die „Magie“ zu entdecken, die sie in Bewegung setzte).
Der Capitán verfolgt die Idee, ein Fahrrad nach diesem Prinzip zu entwerfen: eine Vorrichtung, die durch die Freigabe der Feder eine Bewegung erzeugt, wobei diese Bewegung dann die nötige Energie generiert, um die Feder wieder zusammenzudrücken, und so weiter und so fort.
Die erste Antwort des Kollektivs „Angewandte Wissenschaften“ war wenig ermutigend, wenn auch so wortkarg wie eine Feststellung: „Die Energie-Motor-Energie-Motor-These ist gut für Youtuber und dergleichen. Selbst die Theologie greift nicht darauf zurück. Nicht zu ändern, lieber Capi, du musst wohl weiter in die Pedale treten.“
Ganz nach dem wissenschaftlichen Grundsatz, „zweifle stets“, war die zweite Antwort noch knapper, aber vielversprechender: „Es ist nicht möglich … noch nicht. Nun, wir wissen es nicht wirklich. Die dritte Antwort rannte offene Türen ein: „Ich fahre Motorrad.“
Wie zu erwarten war, ermutigte dies unseren unerschrockenen (falls noch einige „Has“ übrig sind, bitte einfügen) Capitán. Er begann, fieberhaft in seiner verrufenen Fahrradwerkstatt zu arbeiten in der Hoffnung, den heiligen Gral der unendlichen Energie zu finden. Nun, eigentlich hoffte er vor allem, dass sie die Energie überdauern würde, die seine schönen, wohlgeformten Beine produzierten (Has nach Ermessen).
Trotzdem sagte der Capitán immer, wenn er über Fahrräder sprach: „Das ist ein Fahrzeug, das mit Pozol [2] und Wasser betrieben wird, es ist umweltfreundlich und so preiswert, dass das Teuerste die Verbände und Antiseptika für die Sturzverletzungen sind. Tragen Sie immer einen Schutzhelm. Und Achtung: Versuchen Sie nie, wirklich nie, einen Kipplaster oder eine Kuhherde zu überholen.“
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Währenddessen wurde der Sturm immer heftiger.
Wie es für wissenschaftliche Erkenntnisse charakteristisch ist (oder sein sollte), schaute sich das Kollektiv „Angewandte Wissenschaft“ an, wohin das Ganze führte. Es sammelte Daten, überprüfte sie, glich sie ab, analysierte Simulationsmodelle, zog Tabellen, Statistiken und Fakten zu Rate. Und gelangte zu einer Schlussfolgerung: Die verursachte Zerstörung würde das Ende der Welt, wie wir sie kannten, bedeuten. Mit anderen Worten: Alles wäre im Eimer. Nun, nicht mit diesen Worten, sondern etwas wissenschaftlicher.
Anstatt nun aber Direktoren, Geschäftsführer und Abteilungsleiter zu umwerben oder sich um eine Stelle im Rahmen des ohnehin schon mageren Wissenschaftsbudgets zu bemühen, machte sich das Kollektiv daran, grundlegende Materialien zusammenzutragen, deren spätere Knappheit bzw. Nichtexistenz abzusehen war.
So sammelte es jede Menge Drähte, Kabel, Dioden, Transistoren, Widerstände (also die anderen Widerstände), Modulatoren, Oszillatoren, Spulen, Dynamos, Relais und andere gleichermaßen mysteriöse Dinge. Es testete einige experimentelle Modelle. Ermutigt wurde es, als es gelang, die Energieabgabe eines Dynamos an einem Fahrradrad so zu erhöhen, dass … eine schwache Hupe betätigt werden konnte!
Freilich war die Herausforderung, die Subcomandante Insurgente Moisés stellte, deutlich größer: die Geräte in einem Operationssaal zu betreiben. Doch das Kollektiv wusste, dass es auf dem richtigen Weg war.
Wenn dann die solidarischen Ärzt:innen, die Gesundheitspromotor:innen, die Einrichtungen und bald (so hoffen wir) auch die notwendigen Geräte da sind, dann ist das Problem, dass sie auch ohne die in diesem hypothetischen Szenario fehlende Stromversorgung funktionieren sollen.
Als der Sturm bereits heftiger wurde und praktisch am Vortag, zog das Kollektiv mit all seinem Kram in die Gemeinde, von der ich Ihnen erzählt habe. Als die künstlerische Gruppe eintraf, hatte sich die „angewandte Wissenschaft“ also schon seit einiger Zeit vor Ort eingerichtet. Und organisiert.
Auf Ersuchen von SubMoy hatten sie ihre Hütten in einem Bereich errichtet, den sie zu Ehren ihrer Geschichte und Berufung „El Apagón“, „Der Stromausfall“ nannten. Er befindet sich gegenüber von dem Ort, an dem sich die solidarischen Ärzt:innen und Gesundheitspromotor:innen einrichteten, die, um nicht zurückzubleiben, ihren Platz mit dem suggestiven Namen „Lava tu mano y no estés jodiendo“, „Wasch dir die Hände und mach keinen Mist“ tauften.
Beide Kollektive organisierten sich so, dass abwechselnd das eine die für das Überleben notwendigen Arbeiten verrichtete, während sich das andere der Entwicklung von Erfindungen und Geräten aller Art für die angewandten Wissenschaft und im Falle der Solidarischen der Gesundheitsvorsorge sowie der Behandlung komplizierterer medizinischer Fälle widmete.
Was die „Angewandte Wissenschaft“ angeht, war es ihr zwar noch nicht gelungen, genügend Strom für den Operationssaal zu erzeugen, aber es bestand durchaus Hoffnung, dass es beim nächsten Treffen-Tanz genügend Strom für das Mikrofon, ein paar Lautsprecher und vielleicht, so Gott will, das Keyboard geben würde.
Und der Capitán? Nun, wenn sie ihm über den Weg laufen, machen sie sich über ihn lustig und verspotten ihn mit den Worten: „Mein lieber Capitán Frankenstein! Wie läuft es mit dem bionischen Fahrrad?“ Der Capitán lacht und antwortet: „Ihr törichten Wissenschaftler, die ihr den Capi grundlos beschuldigt, ohne zu sehen, dass ihr selbst die Ursache für das seid, was ihr ihm vorwerft. Eines Tages.“
Der „Hund“ befindet sich weiter in der Werkstatt, in seinen Einzelteilen, umgeben von Werkzeugen und allen möglichen Eisen, Drähten, Brettern und Nägeln. Jeden erfolglosen Morgen wirft der Capitán fluchend und beschwörend den Hammer hin: „Eines Tages, eines Tages.“
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Wie? Sie wundern sich, dass dieses Kollektiv der angewandten Wissenschaften in dieser hypothetischen Situation vorher angekommen ist?
Nun, wenn die Wissenschaften nicht in der Lage sind, den Tag danach zu erahnen, wozu sind die Wissenschaften dann eigentlich nütze?
Wenn „A die Voraussetzung für B“ ist und alle Elemente von „A“ gegeben sind, ergibt sich daraus, dass „B“ folgt.
Ergo: Wie der Name des Gemeinschaftsspeiseraums (wo das Kollektiv Angewandte Wissenschaften jetzt einen Aufstand provoziert hat, als es mit den Löffeln ein auf Katapulte angewendetes wissenschaftliches Prinzip demonstriert hat … mit Kürbiskompott – Wissenschaft ist eine Sache, Treffsicherheit eine andere –) besagt: „Verschiebe nicht auf morgen, was du heute verschlingen kannst.“
Natürlich das wissenschaftliche Äquivalent …
Oh, oh, jetzt ist Doña Juanita mit einer riesigen Bratpfanne in der einen Hand und einer XXXL-Kelle in der anderen rausgekommen, um die Gäste zum Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst zu ermahnen. Der Capitán, der sich hinter einem Schutzwall aus Töpfen und Pfannen mit einem Schutzhelm vom Modell „Predator“ in Sicherheit gebracht hat, gibt den Musiker:innen das Zeichen, das Lied „Yo no fui“, „Ich wars nicht“, von Consuelito Velázquez anzustimmen: „Si te vienen a contar …“ – „Wenn sie dir erzählen …“.
Fortsetzung folgt …
Aus der wissenschaftlichen Fahrradwerkstatt „meine Oma in idem“.
Der Capitán
Oktober 2024
Anm. d. Übers.:
[1] Perra – Hündin: Das Wort wird im Spanischen auch abwertend für Frau* verwendet.
[2] Pozol: Stärkendes Maisgetränk.
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