Bilder von unmöglichen Brücken:
II
Ein Buch
August 2024
Das Buch kam einige Tage vorher an. Da waren die zapatistischen Jefas und Jefes [1] gerade in einer Versammlung. Sie analysieren, sie bewerten, sie machen Vorschläge. Das Thema ist das Gemeinschaftliche. Hoffentlich informiert Subcomandante Insurgente Moisés Sie eines Tages über die Ergebnisse der Auswertung. Also wie das alles mit dem Gemeinschaftlichen in den zapatistischen Gebieten läuft.
Die Sache ist, dass ich gerade dabei war, einen Vortrag vorzubereiten, den ich halten sollte. Und da kam das Buch an. Ich blätterte es nur durch. Es ist in einer Sprache geschrieben, die wir nicht kennen, die ich nicht kenne und bei der es sich, wie ich nach einigen Recherchen herausfand, um „Slowenisch“ handelt. Ich nehme an, dass es auch eine Ausgabe auf Englisch gibt (das geht aus dem Inhaltsverzeichnis hervor), aber uns wurde die Ausgabe auf „Slowenisch“ geschickt.
Also nahm ich das Buch mit in die Versammlung und zeigte es den Jefes und Jefas. Ich fragte sie, warum oder was passiert war, dass ihr Wort als Zapatistas in einer Sprache erschien, von der wir vor mehr als 30 Jahren noch nicht einmal wussten, dass sie existierte.
Ich wartete einige Sekunden und fuhr fort: „Ich werde euch sagen, warum. Und ich werde euch eine Geschichte erzählen. Eure Geschichte. Die Geschichte der Zapatistischen Befreiungsarmee, der EZLN.”
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Als der Vortrag zu Ende war und es Zeit war, den Pozol [2] einzunehmen, drängten sich alle rund um das Buch. Ich fragte sie, was in dem Buch stand. Lächelnd antworteten sie, dass sie es nicht wüssten. Ich sagte ihnen: „Was, wenn sie uns beleidigen und wir wissen es nicht, weil wir diese Sprache nicht verstehen.“ „Das glaube ich nicht“, antwortete einer von ihnen, der Teil der Delegation gewesen war, „schließlich haben sie uns eingeladen, ohne uns zu kennen, sie haben uns zu essen gegeben, uns bei sich zu Hause untergebracht und uns gezeigt, was ihr Kampf ist. Sie haben uns also etwas gelehrt. Das bedeutet, dass sie uns respektieren, so wie wir sie respektieren. Ich glaube nicht, dass sie in diesem Buch schlecht reden.“
Eine Compañera, die auch Delegierte gewesen war, schaute das Buch mit festem Blick an. Sie nahm es in die Hand und sagte mit herausforderndem Blick zu mir: „Hör mal, Capitán Sup, natürlich sage ich dir, dass wir ihr Wort, das hier geschrieben steht, nicht verstehen. Aber wir kennen und verstehen ihren Kampf, weil ihn uns diese Menschen gezeigt haben. Das heißt, wir haben das gesehen und gelernt. Deshalb ist uns die Sprache dieser Menschen egal, wichtig ist, was sie sind. Und was wir gesehen haben, ist, dass sie Menschen sind, die kämpfen.“
Ein anderer Compa ergreift das Wort: „Und sie sind wie wir, die zapatistischen Pueblos, weil es ihnen egal ist, ob du von einem ‚anderen‘ Planeten kommst, was zählt, ist, dass du gegen die Hydra kämpfst. Denn das System achtet nicht darauf, welche Sprache du sprichst, sondern beutet dich so oder so aus, unterdrückt dich, bestiehlt dich, verachtet dich.“
Eine Compañera lacht schon die ganze Zeit. Sie sagt zu mir: „Was du bloß denkst, Capitán Sup, wo sie uns doch so nett empfangen haben, mit Liedern und Feuerwerk. Es war deutlich zu sehen, dass ihr Herz sehr glücklich und zufrieden war.“
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„Es war so, dass wir, als wir an diesem Ort ankamen, Angst hatten, dass wir uns geschämt haben. Wir hatten Angst zu sprechen. Weil wir gesehen haben, dass die Menschen dort ganz anders sind. Also ich meine, dass sie sehr groß sind und wir so klein. Und sie sind auch hell und unsere Haut ist dunkel. Was für uns wirklich am schwierigsten war, ist, dass sie nicht Spanisch sprechen, sondern ihre Sprache. Als wir dann unseren Vortrag halten sollten, waren wir mit einer anderen Gruppe von Compas zusammen und die haben uns dann Mut gemacht, anzufangen, und dann haben wir angefangen zu erzählen. Aber es war wirklich schwierig, denn während wir erzählten, unterbrach uns immer wieder der Übersetzer, weil er jeden Teil übersetzen musste. So haben wir uns nach und nach angepasst. Wir mussten Stückchen für Stückchen sprechen, damit alles gut und vollständig übersetzt werden konnte. Und es gab Wörter auf Spanisch, die der Übersetzer nicht verstand. Wir mussten gut aufpassen und uns konzentrieren, um nicht den Faden zu verlieren. Das heißt, sie sind in allem anders, aber im Kampf sind sie wie wir.“
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„Das ist auf dem Balkan“, erklärte mir Subcomandante Insurgente Moisés zuvor. „Sie haben sich nicht als Länder für die Reise für das Leben organisiert, sondern als ein ganzes Gebiet, das sie den Balkan nennen. Sie waren richtig gut organisiert. Weil sie Grenzen nicht anerkennen, streiten sie nicht darüber, ob du aus diesem oder jenem Land oder von dieser oder jener Art bist. Als ich ihnen vom Zapatismus erzählte, sagte ich ihnen, dass man uns vorwarf, das Land ‚balkanisieren‘ zu wollen. Da klatschten sie und es waren Rufe zu hören. Erst später verstand ich, dass dieses Wort für sie bedeutete, „zu vereinen, wenn Einigkeit herrscht“, denn trotz sehr heftiger Kriege kämpfen sie gemeinsam, aber getrennt. Sie vereinigen sich im Kampf gegen die Spaltung, die ihnen von oben auferlegt wird. Aber es ist nicht so, dass die einen befehlen und die anderen gehorchen, nein. Sie einigen sich. Also sie koordinieren sich. Und sie bearbeiten auch das Land. Das heißt, sie kämpfen auch für das Leben. Was sich für uns mit der Reise, also der Reise für das Leben, geändert hat, ist, dass wir vorher nicht wussten, dass es andere Pueblos wie uns gibt, die sich dem Monster nicht ergeben und die rebellieren. Mit dem Balkan haben wir viel gelernt, weil sie sich zusammentun, aber trotzdem ihre Unabhängigkeit, also ihre Besonderheit, nicht verlieren. Wenn es etwas Gemeinschaftliches gibt, finden sie schnell eine Einigung, und ohne zu vergessen, wer jede:r ist, werden sie eins. Sie sind also getrennt, aber zusammen. Wenn jemand das Gemeinschaftliche, das wir vorschlagen, versteht, dann diese Schwesterorganisationen. Auf der Balkanroute gab es das Ganze und die Teile.“
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Subcomandante Insurgente Moisés fährt fort: „Wie auch das Pueblo der Saami stellten sie sich nicht als Land vor. Als ich mich mit ihnen traf, um zu sehen, wie sie genannt werden wollten, antworteten sie etwa so:“
Für uns ist die richtige Bezeichnung die Balkanroute. Das ist nicht (nur) eine geografische, sondern vor allem eine politische Beschreibung.
Seit Jahrhunderten ist der Balkan das Andere von Europa, der wilde, ungezähmte, unzivilisierte Teil Europas: ein Versuchsfeld für alle Arten von kolonialer, kriegerischer, kapitalistischer und extraktivistischer Ausbeutung auf der einen Seite und ein Raum, in dem alle orientalistischen Stereotypen von Europa präsent sind und projiziert werden, auf der anderen.
Er war Schauplatz großer nationalistischer Konflikte, die zu vielen Kriegen führten, unter anderem zu dem Krieg in den 1990er-Jahren, der für unsere Generation, die im letzten Jahrzehnt des sozialistischen Jugoslawiens geboren wurde, eine sehr prägende Erfahrung war, als wir Kinder waren.
Als wir dann als Anarchist:innen, Antifaschist:innen und Antiautoritäre begannen, politisch aktiv zu werden, war die Balkan-Perspektive für uns immer klar: Der einzige Weg, die nationalistischen Spaltungen und den Hass zu überwinden, besteht darin, den Balkan von unten aufzubauen und jedes Kollektiv und jede Bewegung darin zu vernetzen. In den letzten zwei Jahrzehnten (seit der Zeit der Globalisierungsgegner:innen) wurden der Kampf gegen die Kriege in Afghanistan und im Irak und später all die Kämpfe von Arbeiter:innen, Studierenden, migrantischer Solidarität, Feminist:innen, Umweltschützer:innen usw.) über den Balkan geführt.
Wir sind nicht in einer Organisation zusammengeschlossen, sondern arbeiten vielmehr als unabhängige Kollektive in jedem Territorium (die als die verschiedenen Balkanstaaten bekannt sind, wie Slowenien, Kroatien, Serbien, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Mazedonien, Kosovo usw.). Einmal im Jahr haben wir eine gemeinschaftliche Veranstaltung (Balkan Anarchist Bookfair), die für alle Kollektive, die sonst in ihren eigenen Territorien agieren, ein Treffpunkt und ein Raum für Reflexion ist. Manchmal, wie im Fall des Besuchs der Zapatistas oder der Migrant:innenroute im Jahr 2015, arbeiten wir in diesem dezentralisierten Netzwerk der Balkan-Solidarität zusammen.
Kurz gesagt ist also für uns das Konzept der Balkanroute ein politisches Konzept und wir verwenden lieber das, anstatt über Aktivitäten in jedem Land zu sprechen. Die Vorbereitung des Besuchs der Zapatistas erfolgte durch Gemeinschaftliche Treffen der Koordinationsgruppen all dieser Länder in den verschiedenen Territorien und war immer durch dieses internationale Balkan-Gefühl geprägt, zusammenzuarbeiten und einen gemeinschaftlichen Raum für den Kampf zu schaffen.
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Gut. Gesundheit und mögen die Versuche der Hegemonie und Homogenisierung nicht alles ruinieren … wieder einmal.
Aus den Bergen des mexikanischen Südostens
Der Capitán
August 2024
Anm. d. Übers.:
[1] wörtlich „Chefinnen“ und „Chefs“ – Compañeras und Compañeros, die in der politischen Organisation mit Leitungsaufgaben betraut sind
[2] stärkendes Getränk aus Maisschrot und Wasser
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